Florian Holsboer

Current Research

Blut-Hirn Schranke – Eine der Ursachen für schlechte Therapieergebnisse

Ein Medikament, das als Tablette eingenommen wird, hat eine lange Reise vor sich:

Es muss den Magen passieren, der einen hohen Säuregehalt aufweist und daher das Medikament unwirksam machen kann. Im Darm muss sich das Medikament gegen Tausende von Mikroorganismen, dem Mikrobion, durchsetzen und den Weg durch die Darmwand in den Blutkreislauf finden. In der Blutbahn angekommen, gelangen die Medikamente in die Leber, die reich an sogenannten Cytochrome P450 Proteinen (CYP450) ist, die vor allem körperfremde Substanzen abbauen. Diese CYP450 Moleküle wirken als Enzyme, und Medikamente, die an das CYP450 binden, werden schrittweise abgebaut. Die an das Enzym gebundenen Medikamente können die Aktivität von CYP450 aber auch erhöhen oder erniedrigen. Dies hat großen Einfluss auf die Menge des Wirkstoffs im Blut. Daher ist es wichtig, durch Messung der Konzentration des Medikaments zu kontrollieren, ob eine ausreichende Menge des Wirkstoffs in der Blutbahn des Patienten vorhanden ist. Man nennt diese Kontrolle Therapeutisches Drug Monitoring oder kurz TDM.

Für ein Medikament, das seine heilende Wirkung im Gehirn entfalten soll, gibt es noch eine weitere Hürde, die sogenannte Blut-Hirn Schranke. Dies ist eine Barriere, die hilft, diejenigen Stoffe, die im Blut sind und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen stören könnten, daran zu hindern, ins Gehirn einzudringen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das sogenannte P-Glykoprotein, das den Übertritt von körperfremden Substanzen aus dem dichten Netzwerk der Blutgefäße des Gehirns in das Nervengewebe hemmt.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie haben das Gen, welches den Bauplan des P-Glykoproteins enthält, genauer untersucht. Dabei fanden sie, dass beim Menschen dieses Gen, abgekürzt ABCB1 Gen, zahlreiche Varianten aufweist. Die Frage war nun, ob diese Varianten Einfluss auf die „Wächterfunktion“ des P-Glykoproteins haben. Dies war tatsächlich der Fall. Man konnte dies aber nur indirekt feststellen. Die gleichzeitige Messung des Medikaments in den Blutgefäßen des Gehirns und im Hirngewebe würde ja bedeuten, Hirngewebe direkt entnehmen zu müssen und dies ist natürlich nicht möglich.

Die Forscher sind daher ganz pragmatisch vorgegangen: Wenn unterschiedliche Genvarianten mit unterschiedlichen Therapieergebnissen einhergehen, dann ist folgende Schlussfolgerung möglich: Diejenigen Varianten des ABCB1 Gens, die mit einem besseren Therapieergebnis unter einem Antidepressivum einhergehen, produzieren schwächere „Wächter“. Denn je schwächer die Wächterfunktion, umso mehr Antidepressivum kann in das Gehirn eindringen und umso wahrscheinlicher ist ein gutes Therapieergebnis. Durch umfangreiche Analysen wurden Genvarianten identifiziert, die günstig für die Behandlung mit Antidepressiva sind. Ebenso wurden Genvarianten entdeckt, die mit einem weniger günstigen klinischen Verlauf einer Antidepressiva-Therapie verbunden waren. Diese Ergebnisse wurden im sogenannten ABCB1-Test zusammengeführt. Das Testergebnis hilft der Ärztin oder dem Arzt, schneller das für den individuellen Patienten am besten geeignete Antidepressivum auszuwählen. Dies trifft aber nur für diejenigen Medikamente zu, die auch von dem P-Glykoprotein gebunden, oder wie man sagt, erkannt werden. Man nennt diese dann „Substrate des P-Glykoproteins“. Einige Antidepressiva werden vom P-Glykoprotein nicht erkannt, sind also keine Substrate. Bei ihnen spielen die Varianten des ABCB1 Gens keine Rolle.

Zur Bewertung des ABCB1-Tests für die Praxis ist wichtig, zu wissen, dass die Empfehlung, welche Antidepressiva im Einzelfall geeignet sind, sich nur auf die Verfügbarkeit des Medikaments am Ort der Krankheitsentstehung bezieht. Wenn das Medikament nicht in der Lage ist, in den Mechanismus einzugreifen, der die Krankheit verursacht, nutzt sein Vorhandensein am Ort des Geschehens nichts. Wenn es wirken würde, aber den Wirkort nicht erreicht, kann es nicht wirken. Diese Information vermittelt der ABCB1-Test.

Die ersten klinischen Ergebnisse der Forscher des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie waren ebenso überzeugend wie zahlreiche klinische Studien anderer Forscher. In einer Metaanalyse, die alle Studien zusammenfassend betrachtete, wurde der Zusammenhang zwischen Therapieansprechen und den Varianten des ABCB1 Gens ebenfalls bestätigt. Die wenigen Studien, die widersprüchliche Ergebnisse lieferten, hatten gegenüber den Primärstudien zumeist gravierende Mängel, wie die Vernachlässigung der Plasmakonzentration des Wirkstoffs, Verwendung von Antidepressiva, die nur schwach an das P-Glykoprotein binden, also keine richtigen Substrate waren sowie gleichzeitige Verabreichung verschiedener Medikamente u.v.m.

Derzeit ist der ABCB1 Test in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich auf dem Markt.

In der Schweiz ist der ABCB1-Test in die Behandlungsempfehlungen der Fachgesellschaften aufgenommen worden und wird aufgrund der positiven Erfahrungen sowohl von den obligatorischen (gesetzlichen) und privaten Krankenkassen bezahlt.

In Deutschland wird der ABCB1-Test ebenfalls von den privaten Krankenkassen erstattet; von den gesetzlichen derzeit noch nicht.

Ein zentrales Thema in diesem Forschungsbereich ist die Frage, ob die Aussagekraft des ABCB1 Tests durch zusätzliche Analysen von Genvarianten noch weiter verbessert werden kann. Hierbei werden weitere Varianten im ABCB1 Gen, aber auch in anderen pharmakokinetisch oder pharmakodynamisch relevanten Genen, in Betracht gezogen. Dieses Projekt bearbeiten wir in der Firma HMNC Diagnostics, einer Tochter der HMNC-Holding.

Das Stresshormonsystem als Auslöser für Depression und Angststörungen

In einer Stresssituation werden im Gehirn viele verschiedene Mechanismen aktiviert, die dabei helfen sollen, die Situation zu meistern. Hier ist es besonders wichtig, dass im Blutkreislauf die Konzentration des Stresshormons Cortisol angehoben wird. Hierdurch werden molekulare Anpassungsprozesse in Gang gesetzt, die zum Beispiel die ausreichende Verfügbarkeit von dem wichtigen Energieträger Glukose sicherstellen. Zudem muss sich auch das Verhalten anpassen, um die Stresssituation zu bewältigen. Die beiden Stresshormone des Gehirns, das Corticotropin-Releasing Hormone, kurz CRH, sowie das Vasopressin, induzieren wichtige Verhaltensweisen, die helfen, die Bedrohung zu bewältigen. Diese Hormone erhöhen die Ängstlichkeit, unterdrücken Schlaf und Appetit, erhöhen den Puls und den Blutdruck sowie die Konzentration von Cortisol. Auch die Einengung der Informationsverarbeitung auf die bedrohliche Situation wird durch die Stresshormone des Gehirns verstärkt. Wenn der Stressor nicht mehr vorhanden ist, kehren bei einem Menschen mit ausreichender Widerstandskraft, Resilienz genannt, all diese durch Stresshormone ausgelösten Änderungen wieder auf ein normales Niveau zurück. Bei denjenigen Menschen aber, die eine ererbte oder erworbene Anlage zur Depression oder Angsterkrankung besitzen, kann die Stressbelastung, verursacht durch CRH und/oder Vasopressin, die psychische Erkrankung auslösen. In einem solchen Fall ist es sinnvoll, ein Medikament zur Behandlung einzusetzen, das die Wirkung von CRH und/oder Vasopressin unterbindet. Diese Eigenschaft eines Medikaments wird von Pharmakologen Antagonismus genannt. Damit meint man, dass das Medikament die Wirkung von CRH oder Vasopressin an seinem Rezeptor blockiert. Die Rezeptoren, an die CRH oder Vasopressin binden müssen, um ihre Wirkung entfalten zu können, heißen CRHR1- und V1B-Rezeptor Antagonisten, im Jargon auch CRH- oder V1B-Blocker.

Die entscheidende Frage ist nun: Woher weiß ich, ob im Einzelfall die Depression durch CRH oder Vasopressin oder irgendeinen anderen Mechanismus ausgelöst wurde? Das Gespräch mit dem Patienten, das die Grundlage für die Diagnose liefert, wird diese Frage nicht lösen können. Nur durch Labortests ist es möglich, herauszufinden, ob ein Patient an einer durch Überproduktion von CRH oder Vasopressin verursachten Depression leidet, oder ob ein ganz anderer Mechanismus zugrunde liegt, den wir noch nicht kennen.

Hier gehen zwei Tochterfirmen der HMNC Holding, die Cortibon Pharma und Nelivabon Pharma, vollkommen neue Wege.

Cortibon Pharma

Hier wurde zunächst ein auf Genanalysen basierender Test entwickelt. In einer retrospektiven Analyse wurde mit Hilfe dieses Tests gezeigt, dass er gut geeignet ist, eine Patientenpopulation so zu stratifizieren, dass mit hoher Sensitivität und Spezifität diejenigen Patienten identifiziert werden können, die von einer Behandlung mit einem CRHR1-Antagonisten („CRH-Blocker“) größtmöglichen Nutzen hätten.

Parallel hierzu entwickelt Cortibon einen CRHR1-Antagonisten, den die Cortibon Pharma als präklinischen Kandidaten von dem japanischen Pharmakonzern Eisai einlizenzieren konnte. Diese Substanz erfüllt bereits alle Eigenschaften eines Medikaments, das als Antagonist am CRHR1-Rezeptor wirken soll. Derzeit prüfen wir noch, ob Sicherheit und Verträglichkeit gewährleistet sind.

Nelivabon Pharma

Diese Firma hat einen anderen Weg beschritten, um einen Test zu entwickeln, der anzeigt, ob bei einem Patienten mit Depression die Überproduktion von Vasopressin eine kausale Rolle spielt.

Vor vielen Jahren wurde am Max-Planck-Institut für Psychiatrie ein Hormontest entwickelt, der die zentrale Aktivität von Vasopressin anzeigt. Dieser Test ist aber für die Routine zu kompliziert. Daher wurde ein Gentest etabliert, der diejenigen Patienten zu identifizieren erlaubt, bei denen solch eine Vasopressin-Überaktivität vorliegt. Dieser Test wird nun eingesetzt, um diejenigen Patienten mithilfe eines Stratifizierungsprozesses herauszufinden, bei denen ein V1B-Antagonist gut wirksam ist.

Im Mai 2019 konnte Nelivabon Pharma einen V1B-Antagonisten von Sanofi einlizenzieren. Nelivaptan ist in vier größeren kontrollierten Studien gegen Placebo und einem Standardmedikament geprüft worden. Die Ergebnisse waren überwiegend enttäuschend, denn es konnte bisher keine Labortest-gestützte Stratifizierung vorgenommen werden. Da nur ein geschätzter Anteil von 20-30 % wegen erhöhter Vasopressin-Konzentration im Gehirn von einem V1B-Blocker geheilt werden kann, sind die Studienergebnisse nicht überraschend.

Nelivabon Pharma bereitet nun eine klinische Studie vor, die den Effekt einer Stratifizierung mit Hilfe des V1B-Tests auf das Therapieergebnis unter Nelivaptan prüft. Unsere jahrzehntelange Erfahrung auf diesem Gebiet stimmt uns optimistisch, mit der Kombination eines V1B-Tests und einem V1B-Blocker einen Durchbruch in der personalisierten Depressionstherapie zu schaffen.

Ketabon

Ketamin – Eine Chance für chronisch depressive Menschen

Der klinische Zustand eines erheblichen Anteils der Patienten bessert sich auch nach mehreren Behandlungszyklen und Befolgung der Leitlinien bzw. der Behandlungsempfehlungen der Fachgesellschaften nicht. Diese Patienten, immerhin etwa 15 % aller Erkrankten, leiden dann unter einer chronischen Depression oder Treatment Resistant Depression (TRD). Sie sind klinisch in einer außerordentlich belastenden Situation, die wegen eines erhöhten Suizidrisikos auch potentiell tödlich ist. Neuere Untersuchungen mit Ketamin, einem seit 40 Jahren zur Narkoseeinleitung gebräuchlichen Wirkstoff, haben hier einen hoffnungsvollen Weg gewiesen:

Nach intravenöser Anwendung von Ketamin reagieren viele Patienten mit einer spontanen Besserung der depressiven Symptomatik. Diese Besserung hält oft längere Zeit an und ist für die betroffenen Patienten eine Erlösung. Die intravenöse Anwendung hat allerdings einen großen Nachteil: Sie löst bei etwa einem Viertel der Patienten psychose-ähnliche Symptome wie Halluzinationen oder Derealisationen aus, die zwar nach einigen Stunden wieder verschwinden, einer breiten Anwendung aber hinderlich sind. Die Firma Johnson & Johnson hat daher einen anderen Weg eingeschlagen: Ketamin ist eine Substanz, die in zwei spiegelbildlichen Strukturen vorkommt. Das heißt, sie besteht bei identischer Struktur aus zwei Molekülen, die sich wie der linke zum rechten Handschuh verhalten, Chemiker nennen dies Isomere. Eine der beiden Isomere, das S-Ketamin, hat Johnson & Johnson in einer Darreichungsform auf den Markt gebracht, bei der man den Wirkstoff in der Arztpraxis mit Hilfe eines Nasensprays applizieren muss. Auch bei dieser Darreichungsform treten die psychose-ähnlichen Nebenwirkungen auf. Daher müssen auch hier die Patienten mindestens zwei Stunden in der Arztpraxis verweilen, bevor sie nach Hause gehen dürfen.

Ketabon, die gemeinsam der HMNC Holding und der Firma Develco (Pratteln, Schweiz) gehört, verfügt über eine Zubereitungsform von Ketamin, die als Tablette eingenommen werden kann und damit das Problem der intravenösen, bzw. intranasalen Anwendung vermeidet. In dieser Zubereitung wird Ketamin verzögert in den Blutkreislauf abgegeben, so dass die psychose-ähnlichen Symptome nicht auftreten. Dies wurde in Vorstudien an Kontrollpersonen und Patienten bereits nachgewiesen. Diese orale Ketamin-retard Formulierung hat gegenüber der obengenannten Darreichungsform (intranasal) den entscheidenden Vorteil, ambulant verschrieben werden zu können.

Gemeinsam mit klinischen Forschern der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wird derzeit eine randomisierte Placebo-kontrollierte Studie durchgeführt, die prüft, ob die Kombination aus Antidepressivatherapie in Kombination mit oralem Ketamin-retard einer alleinigen Therapie mit Antidepressiva überlegen ist.

Florian Holsboer